Der alte Mann stand ein wenig abseits. Ein kleiner Seitenweg, direkt hinter der Kapelle. Gerade so, daß er durch die nasse Eibe vor ihm einen Blick auf den Eingang erhaschen konnte. Und gerade so, daß er von niemandem gesehen werden konnte, der nicht ausgerechnet in diesem Moment hier entlang ging. Und selbst wenn - die Eibe war dicht genug gewachsen und bei dem Wetter kam sowieso niemand in diese Ecke. Der alte Mann stütze sich schwer auf seinen Stock - sein Rücken tat weh und eigentlich gehörte er hier gar nicht hin. Schon gar nicht an diesem schmuddeligen, nasskalten Novembermorgen. Und erst recht nicht in diesem Ort. Er war seit über 30 Jahren nicht mehr in diesem Ort gewesen. 30 Jahre ...
Damals war er oft hier. Eigentlich so oft er konnte. Viel Geld hatte er damals nicht - der alte Mann lächelte traurig. Das hatte sich nicht geändert seither. Genau wie damals hatte er sich auch dieses Mal sehr genau überlegen müssen, ob und was er einkaufen konnte, so daß der die Fahrt bezahlen konnte.
Er konnte sich noch sehr genau erinnern, daß er immer dann, wenn er in diesem Ort angekommen war vorher angerufen hatte, ob er noch etwas mitbringen könne. Irgendwas, wofür es sich eigentlich nicht lohnen würde, dafür extra noch in den Ort zu fahren aber was dennoch gebraucht wurde. Hundefutter. Oder Milch. Zwei Packungen Käse. Irgendwas. Und er hatte sich immer gefreut, wenn es etwas gab. Das war dann wenigstens eine Kleinigkeit, mit der er helfen konnte, einen Alltag zu bestehen. Meinetwegen Hundefutter - dafür lohnte es sich schon, auf das eigene Abendessen zu verzichten. Diesmal brauchte er kein Hundefutter mit zu bringen. Oder Milch. Und auch keine Flasche Wein für den Abend.
Er hatte sich einen Leihwagen genommen. Eigentlich konnte er sich das nicht leisten, aber es war im wichtig gewesen, genau wie damals hier her zu kommen. Es musste sein. Also war er losgefahren, so wie damals. An der Brücke wurde er ein bisschen langsamer - früher gab es diese Brücke nicht und den Fluss konnte man an dieser Stelle nur mit einer Fähre überqueren. Sicher, er hätte damals in Hagenow über die Brücke fahren können. Aber die kleine Pause, um auf die Fähre zu warten, war wichtig. Um die Vorfreude zu genießen, um schnell noch mal anrufen zu können. "Ich bin jetzt an der Fähre. Ungefähr in einer dreiviertel Stunde bin ich da." Das war immer gelogen - die Strecke war niemals in einer dreiviertel Stunde zu schaffen. Schon gar nicht, wenn man erst noch 10 Minuten darauf warten musste, daß man mit der Fähre übergesetzt hat. Aber das gehörte dazu - Pünktlichkeit war wichtig. Er hatte nie begriffen, warum. Aber es war wichtig.
Diesmal musste er nicht anrufen. Er wollte sich nur daran erinnern, wie es damals war. An seine Vorfreude und daran, daß er es sich immer wieder selbst geglaubt hat, es in einer dreiviertel Stunde zu schaffen. Die Fähre gab es ja auch schon lange nicht mehr, jetzt gab es ja die Brücke.
Es tropfte kalt in den offenen Kragen des alten Mannes. Er schauderte, als der eisige Tropfen seinen Rücken hinunter lief und als er wieder durch die Zweige der Eibe sah, konnte er die ersten Gäste sehen. Da war Thomas - wie immer ein bisschen zu laut. Und Tanja - mit diesem komischen freundlichen Lächeln, das immer eine Spur zu echt wirkte. Lorenz - großspurig wie immer, alles im Griff. Karla, genau so offen und freundlich , wie immer. Und Eliza - die jüngste und immer noch vorlaut. Sie musste jetzt ungefähr so alt sein, wie ihre Mutter damals. Naja, ein paar Jahre jünger - aber genauso hübsch. Das war damals schon klar - Eliza hatte die gleichen ausdrucksvollen Augen wie ihre Mutter und sie konnte mit ihren Blicken damals schon sprechen. So, wie ihre Mutter. Die anderen Gäste kannte der alte Mann nicht. Bei dem einen oder anderen Gesicht hatte er den Eindruck, es schon mal gesehen zu haben - aber er hatte mit diesen Leuten ja nie etwas zu tun gehabt.
Kurz hinter dem Hagenower Kreuz begann genau wie damals das ländliche Umfeld der städtischen Region. Sicher - inzwischen waren die Orte in die Breite gewachsen und wo vor 30 Jahren noch Felder waren, standen jetzt diese unglaublich hässlichen Eigenheimsiedlungen. Aber immer noch gab es auch Landwirtschaft. Der alte Mann öffnete das Seitenfenster - früher hatte es hier im Sommer schon angefangen, nach frisch gemähtem Heu zu riechen. Oder im Herbst der modrig-feuchte Duft gefallenen Laubes. Das hatte sich nur wenig geändert seither. Der Verkehr ist weniger geworden, stellte der alte Mann zufrieden fest. Dann musste er nicht so höllisch aufpassen. Damals war er diese Strecke immer gerast. In der Hoffnung, die dreiviertel Stunde doch noch schaffen zu können. Und voller Vorfreude.
Grundelshausen - 7 km. Hier waren sie in dem einen Jahr oft gewesen. Sie hatten sich heimlich getroffen - ihr war es nicht recht, mit ihm so oft zusammen gesehen zu werden. Und Grundelshausen lag auf halber Strecke. Sie hatten sich die Altstadt angesehen und vor dem einen oder andern Haus gestanden und überlegt, wie es wohl wäre, dort zusammen zu wohnen. Oder sie waren durch die ehemaligen Weinberge spaziert, mal mit dem Hund und mal ohne. Manchmal hatten sie sich auch zum Frühstücken verabredet, in einem Café. Oft unter dem Vorwand, das läge ja auf halber Strecke. Aber er hatte sie eigentlich immer zuhause abgeholt und war dann mit ihr zusammen wieder zurückgefahren. Manchmal kam sie auch mit dem Zug und er brachte sie dann abends nach Hause. Und sie wollten immer in diesem Restaurant essen gehen - komisch, das hatten sie irgendwie nie geschafft. Ob es wohl das Weinlokal noch gab?
Es war ein schönes Jahr. Sie hatten unendlich viel zusammen erlebt. Auch, wenn sie sich nur 3 oder 4 mal im Monat sehen konnten. Das Frühstückspicknick auf der Wiese - als sie nebeneinander lagen und träumten. Ein jeder seinen eigenen Traum und über den Träumen kreiste ein Bussard-Pärchen. Oder nach dem Gerichtstermin, als sie am Waldrand saßen und sie davon erzählt hat, wie sehr sie es sich wünschen würde, wieder mit jemandem zusammen sein zu können. Und die Ausflüge mit den Kindern. In den Zoo, wo sie beide nebeneinander saßen und zusammen beobachteten, wie die Kinder den Affen bei der Fütterung zusahen. Oder die Ausstellung, bei der Karla ganz aufgeregt Fotos von den Vogelspinnen gemacht hatte. Und die endlosen Telefonate, fast jeden Abend und stundenlang. Über ihre Sorgen, und darüber, wie es zwischen den beiden gehen könnte und warum es nicht ginge. Und warum sie den anderen lieben wolle. Und wie es denn wäre, wenn doch.
Das gedämpfte Gespräch der Gäste wurde langsam leiser und alle wandten sich langsam der Kapelle zu. Im Bauch des alten Mannes verkrampfte sich etwas und er bekam keine Luft mehr. Er sollte hier nicht stehen. Nicht im Nieselregen unter dieser Eibe. Und schon gar nicht heimlich. Er gehörte hier nicht her. Nicht an diesen Ort und schon gar nicht an diesem Tag. Eigentlich hätte jetzt die Glocke läuten müssen. Aber es blieb still. Ach ja - diese Gemeinde brauchte sowas nicht. Der Glaube allein genügte. Und die Beachtung der Gebote.
In dem kleinen Ort angekommen suchten seine Augen unwillkürlich nach einem Parkplatz. Aber er brauchte ja nicht anzurufen. "Ich bin jetzt hier - soll ich noch was mitbringen?" Und zwei Ecken weiter wäre der alte Mann fast wieder an der Schulstraße nach links abgebogen. Der alte Schleichweg, um die Ampel zu umfahren. Und dann die nächste rechts und immer geradeaus auf die Biltenberger Straße. Aber diesmal musste er geradeaus.
Es war klar, daß er dorthin musste. Es war auch klar, daß er selber fahren musste. Die ganze Strecke, so wie früher. An den Orten vorbei, in denen sie diesen Sommer verbracht hatten. Das kleine Waldgasthaus - ihre Gegeneinladung stand immer noch aus. Oder der See, auf dem er sie herumgerudert hatte. Der alte Mann war lange nicht mehr in der Gegend, aber als er an all diesen Orten vorbei fuhr, kam es ihm vor, als wenn das alles erst letzte Woche gewesen sei. Und an der letzten Ausfahrt hatte er wie früher seine Zigarre aus dem Fenster geworfen und sich einen Kaugummi ausgepackt. Eigentlich war immer klar, daß das den Geruch des Rauches nicht vertreiben würde. Genau, wie es klar war, daß er die Strecke niemals in einer dreiviertel Stunde schaffen würde.
Inzwischen hatte es begonnen zu nieseln. Und der alte Mann stand immer noch hinter der Eibe und blinzelte durch die Zweige. Seine Umgebung hatte er völlig vergessen und eigentlich nahm er auch gar nicht mehr wahr, daß sich der Platz vor der Kapelle inzwischen geleert hatte. In seinen Gedanken war er weit weg und um ihn herum war das fröhliche Miteinander einer Familie. Karla und Eliza sprudelten mit ihren Erlebnissen des Tages heraus, zwischendrin forderte der Hund seine Streicheleinheiten und in ein paar Minuten wird dann auch Lorenz da sein und es gibt Mittagessen. Und wie immer der kleine Streit mit Eliza, wer denn nun an der Tischecke sitzen würde. Und wer den gelben Becher bekäme. Ein fröhliches Durcheinander und mittendrin die Mutter der Kinder.
"Entschuldige - du musst Michael sein." Jäh wurde der alte Mann aus seinem Traum gerissen. Neben ihm stand ein ebenfalls älterer Herr. Ein paar Jahre älter vielleicht - aber jenseits eines bestimmten Alters war das sowieso kein großer Unterschied mehr. "Ich wusste, daß du kommen würdest. Ich bin Paul." Über das Gesicht des alten Mannes huschte ein Erkennen - obwohl er den anderen nie gesehen hatte, war er vertraut. Der alte Mann hatte sich nie ein wirkliches Bild von dem anderen gemacht. Aber in diesem Moment kam es ihm vor, als ob er einen alten Freund wieder getroffen hätte. "Sie hat es immer wieder gesagt: Er wird da sein. Er wird es wissen und er wird wissen, wo es sein wird. Und Du musst es ihm sagen." Der alte Mann nickte stumm. "Wir hatten eine schöne Zeit. Die Kinder sind erwachsen geworden und haben ihrer Mutter das Gefühl gegeben, daß sich ihre Anstrengungen gelohnt haben. Und manchmal hatte ich sogar den Eindruck, sie wäre glücklich." Der alte Mann nickte wieder. "Aber du warst immer bei uns. Sie hat dich nie vergessen. Niemals, in all den Jahren. Sie wollte, daß du das weißt. Sie wollte das du weißt, daß sie dich geliebt hat."
Der alte Mann nickte erneut. Dann stützte er sich auf seinen Stock und trat unter der Eibe auf den Weg hervor. Ein Regentropfen rann auf seiner Wange herab und er ging auf dem Hauptweg des Friedhofes langsam zu seinem Wagen. Jetzt endlich war er frei.
(snork, Oktober 2008)