Von der Liebe

Indry

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17. Okt. 2002
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Wenn die Liebe dir winkt, dann folge ihr,

sind ihre Wege auch schwer und steil.

Und wenn ihre Flügel dich umhüllen, gib dich ihr hin,

auch wenn das unterm Gefieder versteckte Schwert dich verwunden kann.

Und wenn sie zu dir spricht, glaube an sie

auch wenn ihre Stimme deine träume zerschmettern kann wie der Nordwind den Garten verwüstet.

Denn so, wie die Liebe dich krönt, kreuzigt sie dich.

So wie sie dich wachsen läßt, beschneidet sie dich.

So wie sie empor steigt zu deinen Höhen und die zartesten Zweige liebkost, die in der Sonne zittern, steigt sie hinab zu deinen Wurzeln und erschüttert sie in ihrer Erdgebundenheit.

Wie Korngaben sammelt sie dich um sich.

Sie drischt dich, um dich nackt zu machen.

Sie siebt dich, um dich von deiner Spreu zu befreien.

Sie mahlt dich, bis du weiss bist.

Sie knetet dich, bis du geschmeidig bist.

Und dann weiht sie dich ihrem heiligen Feuer, damit du heiliges Brot wirst für Gottes heiliges Mahl.

All dies wird die Liebe mit dir machen, damit du die Geheimnisse deines Herzens kennenlernst und in diesem Wissen ein Teil vom Herzen des Lebens wirst.

Aber wenn du in deiner Angst nur die Ruhe und die Lust der Liebe suchst, dann ist es besser für dich, deine Nacktheit zu bedecken und vom Dreschboden der Liebe zu gehen in die Welt ohne Jahreszeiten, wo du lachen wirst, aber nicht dein ganzes Lachen, und weinen, aber nicht all deine Tränen.

Und glaube nicht, du kannst den lauf der Liebe lenken, denn die Liebe, wenn sie dich für würdig hält, lenkt deinen Lauf.

Liebe hat keinen anderen Wunsch als sich zu erfüllen. Aber wenn du liebst und Wünsche haben mußt, sollst du dir dies wünschen:

zu schmelzen und wie ein plätschernder Bach zu sein, der seine Melodie in der Nacht singt.

Den Schmerz allzuvieler Zärtlichkeiten zu kennen.

Vom eigenen Verstehen der Liebe verwundet zu sein und willig und freudig zu bluten.

(von Khalil Gibran aus "Der Prophet")